Amtswechsel in Führungsfunktionen markieren überall Einschnitte für eine Verwaltung wie für die von ihr Verwalteten, von den einen erhofft und von anderen gefürchtet. Aber oft sind sie auch Gelegenheiten, hinter die Kulissen zu sehen und Entdeckungen zu machen, zumal für das zuständige Archiv. Das kann Schmerzen bereiten oder Überraschungen bieten.
Denn bei Amtswechseln geht es nicht immer so zu, daß die scheidenden Chefs sagen: ‚Alles ist in den Akten, meine Schubläden sind leer!‘– und das dann auch stimmt. Gelegentlich dürfte es so sein wie z.B. beim Wechsel im Bundeskanzleramt 1998/1999: Ein Neuer zieht ein und findet, der Alte habe rechtzeitig „putzen“ d.h. heikle Akten vernichten lassen oder verlegt oder vergessen oder „eigentlich seien das ja alles private Unterlagen gewesen“… Schließlich passiert es auch, daß das Archiv ins Chefbüro am letzten Arbeitstag gerufen wird und hört: ‚Diesen Schrank habe ich so übernommen. Ich habe nie richtig hineingesehen, alles alte Sachen. Die können Sie jetzt wegräumen!‘ In Nordhausen war das vor 130 Jahren fast genauso, findet sich aber in keiner Chronik…
Am 1.09.1892 hatte der bisherige 1. Nordhäuser Bürgermeister Karl Hahn (1846-1899) sein neues Wahlamt als Oberbürgermeister in der heutigen Partnerstadt Bochum angetreten. Daher unternahm der ihn vertretende 2. Bürgermeister Paul Friedrich Lemcke (1850-1909) – ein königlich preußischer Divisionsintendant a.D. – in den darauffolgenden Tagen eine gründliche „Durchsuchung des [Alten] Rathauses“. Im Ergebnis konnte er am Nachmittag des 14.10.1892 dem Stadtarchivar Hermann Heineck (1860-1930) einen „sehr wertvollen Fund“ übergeben, worüber dieser in der Nordhäuser Zeitung vom 15.10.1892 berichtete. Bürgermeister Lemcke hatte „in einem jedenfalls seit vielen Jahren verschlossenen, und nun aufgebrochenen Kasten in dem derzeit unbesetzten Zimmer des Ersten Bürgermeisters“ eine Kaiserurkunde und vier „umfangreiche Schriftwerke“ gefunden. Wie man bei näherem Hinsehen feststellte, hatten – wenig überraschend – Streit in der Einwohnerschaft, Finanznöte und Steuererhebungen, Ämterkonkurrenz und bürokratischer Zugriff auf die reichsstädtische Bürgerschaft viel spannendes Schriftgut hervorgebracht, das aber jahrzehntelang im Schrank vergessen gewesen war. Doch lassen wir H. Heineck selbst berichten:
„Die Kaiserurkunde ist von Kaiser Karl V. am 12. Juli 1541 auf dem Reichstage zu Regensburg eigenhändig ausgefertigt, und verstattet der Freien Reichsstadt Nordhausen, welche damals durch Brand usw. ziemlich heruntergekommen war, die Erhebung eines Wegegeldes von 12 Pfennig für einen Wagen und 6 Pfennig für einen Karren auf die Dauer von 12 Jahren bei Strafe von 20 M[ark] Goldes. Die kaiserliche Unterschrift ‚Carol‘ zeigt große markige Schriftzüge in blasser Tinte. Das an einer dicken schwarzgelben Schnur angehängte Wachssiegel hat die Größe eines kleinen Tellers. Syndikus Michael Meyenburg, der von der Stadt 1541 als Abgesandter zum Reichstage nach Regensburg geschickt war, hatte die Urkunde dort ausgewirkt. […]
Die aufgefundenen Schriftwerke sind vier umfangreiche Folianten, alle vier auch in älteren Verzeichnissen unserer Archivbestände nicht enthalten [!], und unseren Lokalhistorikern noch unbekannt. Sie sind folgenden Inhalts, und zwar:
- Raths-Händell-Buch, 1658 bis 1663 Es enthält hauptsächlich die vor dem Rathe geschlichteten Streitigkeiten (Händel) sowie Verzeichnisse der eingehobenen Strafen.
- Raths-Aemter-Buch 1680 bis 1745 und
- Eines Hoch Edlen Raths […] Wahl- und Aemter-Buch 1740 bis 1786. Diese beiden Bücher enthalten u.a. auch die Listen der Kriegsmeister, Sprechmeister, Schoßherren, Feuerherren, Apothekerherren, Bau- und Kunstherren, der Schöffen und der Gerichtsvögte. Von Werth sind namentlich die Verzeichnisse der Schöffen und Gerichtsvögte, weil über diese Beamten Anhaltspunkte dieser Art bis jetzt überhaupt noch fehlten.
- Rechnung der Vormunde in der Newstadt, 1591 bis 1617. Die Einnahmen bestehen u.a. aus den Abschnitten: ‚Grabengeld, von den Thorenn, Weidenn, an Wachegeld und an Thor zu hueten‘.“
Heineck stufte den Fund als „einen äußerst werthvollen Zuwachs unseres städtischen Archives“ ein. Nachdrücklich drückte er abschließend seine Hoffnung aus, vielleicht berge „unser altes Rathaus bei genauer Durchforschung noch mehr dergleichen.“ Seine Hoffnung trog nicht, dieser Fund blieb nicht allein. Denn von den Zeiten E.G. Förstemanns und noch bis in die Jetztzeit wurden immer wieder einmal in städtischen Amtsgebäuden (Böden oder Kellern) ‚vergessene Akten‘, Amtsbücher, Sammelakten u.a. gefunden oder gar ‚gerettet‘. Sie hatten durch Personalwechsel, Raumnöte und äußere Einwirkungen nicht rechtzeitig den Weg ins Stadtarchiv gefunden. Manche historisch wichtige Unterlage überlebte jedoch nicht.
Andererseits halten selbst solche Glücksfunde nicht vor, wenn nicht die Archive dem Wandel der Zeiten entsprechend angemessenen Schutz und Infrastruktur erhalten. Keller und Dachböden sind keine sicheren Orte für Archivgut. Die westdeutsche Flutkatastrophe hat dies 2021 in erschreckendem Ausmaß wieder bewiesen.
Zwar ist die Kaiserurkunde aus 1541 heute noch erhalten. Die vier Manuskripte aber gehören zu den über 80 % Verlusten des Amtsbücherbestandes (!) durch die Luftangriffe vom 3./4.04.1945.
Rechtzeitig evakuiert waren diese Bände offenbar nicht, vorher verfilmt hat sie niemand, wiederaufgetaucht sind sie seither auch nicht, aber wer weiß…?!