Bei der laufenden Verzeichnung neuer oder schon angejahrter Zugänge im Stadtarchiv zeigen sich immer wieder spannende Überraschungen oder einfach nur anregende, keineswegs neue, dafür aber „skulpturale Besonderheiten“ (B. Maaz, 2010) aus der Fotogeschichte der Stadt. So tauchte jüngst ein Konvolut von 7 Fotopositiven zum „Neptun auf dem Kornmarkt“ auf (Best. 9.1.2./ Akz 2011/165). Auch Fotos sind natürlich Archivalien, darum mag es hier kurz vorgestellt sein, fachgerecht kommentiert dank Frau Jessica S. Müller M.A. aus der Flohburg | Das Nordhausen Museum.
Seit der Renaissance war ein Standbild des imposanten antiken Meeresgottes ein Standardmotiv an Prachtbrunnen für vornehme Parks und Residenzen – aber warum in Nordhausen und warum auf dem Kornmarkt (Korn natürlich für Branntwein…) ?
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Neptun-Statue ein beliebtes Motiv für Nordhäuser Postkarten und Fotografien. Sie ist unsigniert, überlebensgroß, hochklassizistisch in der Formensprache und wurde im Eisenwerk Lauchhammer/Lausitz in Eisen gegossen. Die anhaltende Beliebtheit des Motivs entsprang der außergewöhnlichen und vielschichtigen Aussagekraft des Denkmals. Denn der Brennereibesitzer und Brunnenfigur-Stifter Bötticher, der Baukondukteur Kölling und der Magistrat Seiffart hatten für Nordhausen zwischen 1824–1828 ein einzigartiges und dadurch erfolgreiches „Identitätswerkzeug“ ersonnen – einen klassizistischen Neptun
- als Denk-Mal für die traditionelle und wirtschaftlich bedeutende Kornbrennerei in der Stadt,
- als Beweis für modern-neuhumanistische Bildungsziele für alle Klassen und Schichten und
- als politisches Merkzeichen selbstbewusster, da ehemals reichsfreier, Bürger nach ihrer Eingliederung ins preußische Königreich.
Was uns heute beim Bummeln durch die Promenade gar nicht auffällt:
Es ist ein privat finanziertes Denkmal. Es kombiniert Kunst mit praktischem Nutzen auf einem der belebtesten Plätze der Stadt. Das gezielt eingesetzte Kunstwerk demonstrierte seit Ende der 1820er Jahre wie kein zweites Denkmal in der Stadt Stolz, Sozial- und Bildungsprestige, wirtschaftliche und bürgerliche Stärke. Neptun als antike Meeres- und Sturmgottheit wirkte auf die Zeitgenossen so aufsehenerregend, dass selbst der preußische König Friedrich Wilhelm III. 1838 einem seiner Söhne zum Geburtstag einen Zweitguss von jenem „bürgerlichen Neptun“ für Schloß Klein-Glienicke schenkte.
Noch höher stieg der Bürgerstolz der Nordhäuser, als 1863 sich der Modelleur des Neptun offenbarte: der inzwischen berühmte Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel. Er schilderte in seinen „Jugenderinnerungen“ die Entstehung jener frühen Studien- bzw. Ausbildungsarbeit in Dresden.
Und der Stolz blieb, an Würdigung freilich mangelt es vielleicht noch. Das Denkmal wandelte sich kaum durch die Zeit, aber seine Brunnenumgebung und nicht zuletzt sein Standort bis hin in die Promenade, so daß bis heute täglich Hunderte am Neptun mit dem Dreizack vorbeigehen.
Aber dass dieser Dreizack-Mann, oder wie die vom Stamme Denglish sagen „Iron Man“, vom jetzt fahrzeugumbrausten Kornmarkt stammte, aus privatem Engagement finanziert wurde und zentrale Botschaften der Nordhäuser Bürgerschaft von vor fast 200 Jahren verkörpert, wissen viele von deren Nachkommenschaft wohl kaum mehr…
Näher Interessierte – z.B. an einer Führung zum Brunnen – können sich sehr gerne an den NGAV e.V., an die Flohburg | Das Nordhausen Museum oder an die Stadt- und Gästeführergilde wenden !